A.Schönberg: Variationen über ein Rezitativ

op.40 für Orgel (1941);
Bearbeitung für Orchester von Felix Greissle

Zürich 2008

Text: Peter Hirsch

In einem Brief an den Dirigenten R.Leibowitz, in dem es um eine von diesem beobachtete ‚Lockerung der Strenge‘ im System Schönberg geht - also das Vorkommen von Oktavverdopplungen, konsonanten Dreiklängen etc., schreibt Schönberg: „Das Orgelstück stellt meine „Französischen und Englischen Suiten“ dar, oder, wenn Sie wollen, mein Meistersingerquintett, mein Tristan-Duett, meine Fugen von Beethoven und Mozart (die Komponisten homophoner Melodien waren): meine „Stücke im alten Stil“, und wie ungarischer Einfluß in Brahms. Mit anderen Worten, wie ich schon oft gesagt habe: fast jeder Komponist eines neuen Stils hat ein Sehnen zurück zum alten Stil (bei Beethoven: Fugen). Die Harmonik der Orgel-Variationen füllt die Lücke zwischen meiner Kammersymphonie und der „dissonanten“ Musik aus. Viele ungenützte Möglichkeiten sind darin zu finden.“
Wir befinden uns also im Reich der ungenützten Möglichkeiten. Das beantwortet zum einen die Frage, in welchem „Stil“ sie denn nun eigentlich sind, diese 1941 geschriebenen „Variationen über ein Rezitativ“. Zum andern bedeutet dies, daß darin auch Platz ist für Schönbergs Kabalistik um die Zahl 12: Das ausladende Rezitativthema enthält alle 12 Töne der chromatischen Skala; es besteht aus 36 Tönen, zusammengefaßt in 6 Gruppen oder Motiven zu je 3, 6 oder 9 Tönen. Die Dichte sowohl der stark modulierenden Harmonik wie des Kontrapunkts ist so groß, daß die von Schönberg ohnehin nicht besonders geliebte Orgel (es handelte sich um ein Auftragswerk für Orgel) ihrer kaum Herr zu werden vermag. Sein Schüler und Schwiegersohn Felix Greissle schreibt dazu: „Im Grunde mochte Schönberg die Orgel nicht, weil auf ihr Klarheit und Deutlichkeit verloren gehen: ein tonaler Klang erscheint darauf nahezu wie ein atonaler. Diesen Schwebezustand des Orgelklangs hat Schönberg in die Komposition des Stücks mit einbezogen... Doch schien Schönberg mit dieser Lösung auch nicht zufrieden. Obendrein widerstrebte ihm sehr die Registration, die Weinrich (der Organist der Uraufführung) in der Veröffentlichung dem Stück beilegte. Daher riet ich Schönberg, das Stück zu orchestrieren. Dann aber erkrankte er und trug mir die Arbeit an. ... Ich habe mich bei der Instrumentation bemüht, jede Erinnerung an den Orgelklang zu vermeiden. Daher ist das Orchester ohne Hörner, die den Klang weich machen, stattdessen mit hohen Trompeten und Posaunen. ... Jedes Blasinstrument ist dreifach besetzt, um möglichst einheitliche Farben hervorzubringen. Denn meine Idee des Orchesterklanges war dabei, nicht einen ‚zerlegten Klang‘, wie z.B. Webern ihn für die Bach-Bearbeitung wählte, sondern einen ‚zusammengesetzten‘ zu erzeugen. So habe ich jede Variation in eine verschiedene, charakteristische Orchesterfarbe gesetzt. ... Der Hörer wird überrascht sein, daß hier das Orchester nicht lüsternen Klanges sondern kalt, hart und klar erscheint.“
Tatsächlich bringt Greissles Bearbeitung sehr viel Klarheit ins Dickicht der Klänge. Aber nicht nur: zugleich erhält und unterstreicht sie den dunkel-lastenden Tonfall, insbesondere des Beginns sowie die fast zwanghaft appellative Emphase zum Schluß der Fuge; hier erweisen die Variationen ihre nicht nur zeitliche sondern auch musikalisch-inhaltliche Nähe zur „Ode an Napoleon“ op.41. Beide Werke sind eindrückliche Zeugnisse des alten Schönberg im amerikanischen Exil. Wie die „Ode“ so blicken auch die Variationen warnend, anklagend und beschwörend aus der Neuen auf die untergehende Alte Welt und beschreiben sie als verloren.

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