A.Bruckner: Finale 9.Symphonie – Fragmente

Sony Classical SK87316
Mainz 2006

Text: Peter Hirsch

Bruckner arbeitete während der letzten eineinhalb Jahre seines Lebens, mit großen krankheitsbedingten Unterbrechungen, am Finale der 9.Symphonie. Nach seinem Tod am 11.Oktober 1896 wurde entgegen seiner testamentarischen Verfügung das überlieferte Manuskriptmaterial nicht an die damalige k.u.k. Hofbibliothek übergeben sondern in vielerlei Winde verstreut. Erst knapp 50 Jahre später gelangte ein Großteil aus privater Hand (dem Nachlaß F.Schalk) an die Öffentlichkeit und gehört heute zum Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek. (Weitere Blätter befinden sich u.a. in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sowie der Bibliothek der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Wien.) Es gibt neben fertig ausinstrumentierten Partiturseiten solche, die nur die Streicher enthalten, ferner Particelle, also in meist 4 Systemen ausgearbeitete Klavierauszugskizzen, oft mit Instrumentenangaben versehen, sowie sogenannte Satzverlaufsentwürfe: diese enthalten oft nur eine Stimme sowie Taktnummerierungen und dienten Bruckner, dessen kompositorisches Denken sich in festen Taktgruppen bewegte, als eine Art Architekturführer durch das Werk. Sowohl die Partiturteile als auch besagte Satzverlaufsentwürfe wurden in bereits vorher eingerichtete Doppelbögen Notenpapier eingetragen; jeder Doppelbogen enthielt die Instrumentenangaben sowie durchgezogene Taktstriche zu je 4 Takten pro Seite, also 16 pro Bogen. Diese Bögen wurden nummeriert und je nach Ausarbeitungszustand auf verschiedenen Stapeln gesammelt. Wurde eine Stelle umgearbeitet oder verändert, gab es einen kompletten neuen Bogen mit derselben Nummer auf einem weiteren Stapel. Im Laufe dieses Prozesses wurden zudem wahrscheinlich im Juni/Juli 1896 durch eine Erweiterung zu Beginn des Satzes alle späteren Bögen umnummeriert.
All dies führte zu zahlreichen Mißverständnissen und Fehldeutungen, und erst in den 1980er bis 90er Jahren unternahm John A. Phillips eine grundsätzliche Neusichtung des Materials. Bruckner hat den Satz bis weit in die Reprise - wahrscheinlich sogar die Coda - hinein konzipiert und zwar großenteils in fertiger Partitur. Wie man an Hand der Anschlußbögen und der Taktgruppenzählungen nachweisen kann, hat es komplett ausgearbeitete Doppelbögen gegeben, die nach Bruckners Tod verschenkt wurden oder sonstwie verloren gegangen und seitdem verschollen sind. Absurde Situation: Da werden die Manuskripte eines Komponisten post mortem zu begehrten Reliquien - auf Kosten des Komponisten. Es ist wie der Einbruch der Wirklichkeit in die Kunst.
Manche der solcherart gerissenen Lücken konnten durch Auswertung früherer Partiturzustände und Particellskizzen rekonstruiert werden. Der Gegenstand gebietet es, dabei mit der größtmöglichen Skrupulösität vorzugehen. Das bedeutet, daß viele Passagen ganz unterschiedliche Grade der Ausarbeitung aufweisen. Wir haben also ein Fragment sowohl in der Vertikalen wie der Horizontalen vor uns, in Ausbreitung und Ausarbeitung. Ein besonders deutliches Beispiel dafür findet sich gegen Ende des ersten Abschnitts im Anschluß an den Choral: Hier markiert die Flöte mit dem Te-Deum-Motiv den Beginn der Durchführung. Dieser überraschende und so signifikante Auftritt erscheint jedoch nicht herausgehoben sondern gleichsam unter der Hand, wie eine Art Hinterglasmusik, deren Fortführung sich im Ungewissen verliert. Bruckner hat um diese Stelle gerungen; was zu rekonstruieren war und was wir hören, ist eine Art ‚Musik im Dunkeln‘, mit der wir - gleichsam unerlaubt - hineinhören in ein eigentlich Unerhörtes.
Die strikte Beschränkung auf das, was uns hinterlassen wurde, unterstreicht auch folgendes: Alle Brüche, Reibungen und Dissonanzen, die wir hören, sind original! Bruckner schreibt hier manches von so radikaler Kühnheit wie selbst in den vorausgegangenen 3 Sätzen nicht: Zum Beispiel die wie gemeißelten Trompetendissonanzen zu Beginn der Durchführung: Hält man das Manuskript in Händen, ist es geradezu erschreckend zu sehen, wie Bruckner diesen Vorhalt (kleine None vor der Oktav) mit spitzer Feder fast durchbohrend tief ins sonst hier bleistiftbeschriebene Papier ritzt; gleich einem Schnitt ins Fleisch, der die Kompromißlosigkeit einer ganz und gar nicht versiegenden künstlerischen Kraft vehement unterstreicht.
Was aber bleibt, ist auch das, was fehlt: Kurz vor der Coda brechen die Fragmente endgültig ab. Von ihr, die, wie Max Auer berichtet, alle Themen der Symphonie nochmals, nach Art der Achten, übereinandertürmen sollte, existieren nurmehr vereinzelte Takte auf losen Skizzenblättern; wieviel ausgeschriebenes Material verloren gegangen ist, wissen wir nicht. Außerdem klaffen im Verlauf bis dahin vier schmerzliche, nicht rekonstruierbare Unterbrüche. Bruckners musikalische Denk- und Schreibweise in Taktgruppen und musikalischen Perioden birgt jedoch ein Unerwartetes: Die Chance nämlich, den Torso als klingende Architektur wahrzunehmen, deren Großartigkeit auch durch den zuweilen fragmentarischen Zustand ihrer Überlieferung nicht beeinträchtigt wird. Durch die Möglichkeit, den Puls der Musik ins Nichts hinein fortzudenken, die Musik ein Stück weit gleichsam ‚weiterzuhören‘, wird das, was eben nicht da ist, plastisch; vergleichbar den imaginären Fortschreibungen unseres Auges beim Betrachten bruchstückhafter Fresken oder einer nur ruinenhaft überlieferten antiken oder mittelalterlichen Architektur; verbunden freilich mit der steten Furcht vor dem Ende, dem Erschrecken vor dem Abgrund.

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