Das irdische und das himmlische Leben

Janáček: Des Spielmanns Kind
Berg: Bruchstücke „Wozzeck“
Mahler: Sinfonie Nr. IV

Mainz 2011

Text: Peter Hirsch

Kaum eine andere Symphonie Mahlers ist so gebrochen, enthält soviel Scheinbarkeit wie seine Vierte. Nicht von ungefähr laufen schon die Schlittenfahrtschellen gleich zu Beginn aus dem Ruder. Der Satz beginnt, wie Mahler es sagte, „als ob er nicht bis drei zählen könnte“. In den „Erinnerungen an Gustav Mahler“ von N.Bauer-Lechner, aus denen dieser Ausspruch stammt, gibt es auch die Überlieferung einer schönen Bemerkung Mahlers über das „zweite Ich“, das „im Schlafe tätig ist, das wächst (...) und hervorbringt, was das wahre Ich vergeblich suchte und wollte.“ Interessanterweise fällt dieser Satz in Zusammenhang mit den 10 Monaten „Winterschlaf“, den die Vierte während des Theaterbetriebs zwischen den Sommern 1899 und 1900 überstehen mußte. Dieses zweite oder: „mein eigentliches Ich“ hat sich bei diesem „Scheinleben“, wie er es nennt, „in den letzten Winkel meiner Seele, zu sich selbst und seinem, das ist meinem eigenen höheren Leben geflüchtet.“  Besser und schöner kann man die Gleichzeitigkeit von Authenzität und Scheinbarkeit, das Vexierspiel zwischen Ursprünglichkeit und ,Als-Ob‘ kaum beschreiben. Alles Schalkhafte, Maskenspielerische (auch der spezifische Humor, der sich hier ausspricht) erhält somit seinen ernsten und auch: (im besten Sinne!) naiven Grund. Mit Parodie oder gar Lustigkeit hat das nichts zu tun. „Kennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht!“ sagte schon Schubert... Die Sprache dieses zweiten Ichs ist die des volkstümlichen Tons. Und historisch gesehn war dieser Ton immer die Sprache der armen Leute. So werden unversehens die an Kindertage gemahnenden Schlittenschellen des Anfangs zu einer Art Arm-Sünder-Läuten; und inmitten der größten kontrapunktischen Kunstfertigkeit der Durchführung gelingt es Mahler, durch einfache Moll-Einrückung das Hauptthema zu einem Beispiel größter, Schubertscher Untröstbarkeit zu machen. Kein Zufall, daß auch „Das irdische Leben“ in der frühesten Planung Bestandteil der Symphonie hat sein sollen.
„Freund Hein spielt auf“, war der 2.Satz ursprünglich überschrieben; spielt auf zum Tanz, auf seiner Fidel, deren Saiten um einen Ton höher gestimmt sind als bei einer gewöhnlichen Geige: zufahrend und schneidend ist der Ton. Einerseits; andererseits greift der Ländler der Trios zweimal, gleichsam vor der Zeit, Freund Hein in die Saiten und formt so das Totentanzmäßige um zum Gleichnis für die Wiederkehr des Immergleichen, aus der das gewöhnliche, irdische Leben besteht. Zugleich und ebendarin aber werden die Trios, insbesondere das zweite, auch zu Orten der Beschwörung vergangenen Glücks. Und so ist es vielleicht kein Zufall, daß in der letzten Scherzo-Reprise das „Freund-Hein“-Motiv von einer weiteren, diesmal nicht höher gestimmten Sologeige angestimmt wird. Doppelgänger oder ein weiteres „zweites Ich“?
Das Finale, das „Himmlische Leben“ aus „Des Knaben Wunderhorn“, ist acht Jahre vor der Symphonie entstanden; es ist also sowohl Ziel wie Ursache der anderen drei Sätze. Auf diesen bemerkenswerten Umstand wurde schon in einer zeitgenössischen Kritik zur Wiener Erstaufführung 1902 mit der durchaus kritisch gemeinten Bemerkung verwiesen, daß man die Symphonie, um sie zu verstehen, „ wie eine hebräische Bibel von hinten nach vorne lesen müsse“. Dieses Auf-das-Finale-Hingeschrieben-Sein ist im dritten Satz doppelt evident. Einer der schönsten langsamen Sätze Mahlers, ein weitgespannter Variationensatz, ganz in der Tradition eines Brucknerschen Adagios. Der Ton ist verträumt und ernst. Kein Maskenspiel mehr wie in den ersten beiden Sätzen. Das erste und das zweite Ich scheinen zueinander gefunden zu haben. Das musikalische „Himmelaufreißen“ am Ende des Satzes weist ideell und thematisch direkt auf das sich nahtlos anschließende Finale hin.
Dieser Übergang ist zwingend ebenso wie überraschend. Auf seinem ureigenen Weg, dem der Verschmelzung von größtmöglicher Kunstfertigkeit und Empfindung ist Mahler dort angekommen, wo er hinwollte, oder: wo er schon einmal war: beim reinen Volkston; bei der musikalischen Verortung dessen, was im Literarischen an „Des Knaben Wunderhorn“ ihm das Wichtigste gewesen sein mag: Das Aufgehobensein unserer Projektionen von Kindheit. Nicht konkrete Erinnerungen an konkrete „alte Zeit“, eher mögliche Bilder einer möglichen Vergangenheit. Bilder und Szenen, die durch Beispielhaftigkeit ihren vermeintlichen Gegenstand überhöhen. „Mit kindlich heiterem Ausdruck; durchaus ohne Parodie!“ schreibt Mahler für die Singstimme vor. „DURCHAUS ohne Parodie!“, mit Ausrufezeichen: kein gekünstelter ,Kinderton‘, keine falsch verstandene ,naive Unschuld‘ also. - Nach durchaus handfesten Beschreibungen durchaus irdischer Essens- und Essensbeschaffungsgewohnheiten im Himmel sackt der letzte Refrain plötzlich von G-Dur ins lichte E-Dur ab: „Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden“. Wenigste Standardakkorde, wieder und wieder E-Dur; „Volksmusik“ in reinster, d.h. utopischster Form.

In einem Artikel zur Uraufführung von „Des Spielmanns Kind“ 1917 beschreibt Janáček, ganz im Sinne und und in der Tradition Mahlers, die zwingende Verbindung zwischen motivischer Erfindung und Klangfarbe. Die Beispiele, an denen er dies festmacht - etwa die vier Violen, die der „Seele dieses Volkes, das in den Hirtenhütten unserer Dörfer sein karges Dasein fristet“, musikalischen Ausdruck verleihen, oder natürlich die Solo-Violine, „die des Spielmanns Leben und Tod, seine Freuden und Leiden besingt“ - verdeutlichen darüberhinaus seinen kompositorischen Ansatz, weder allgemeine Stimmungsbilder zu malen, noch die zu Grunde liegende Erzählung linear nachzuerzählen, sondern aus den von ihr inspirierten, charakteristischen Motiven freie symphonische Form zu gestalten. Die Meisterschaft, die er darin erreicht, macht ihn zu einer singulären Figur der Musikgeschichte. Schon Anfang der 50er Jahre schrieb H.-H. Stuckenschmidt über ihn: „Er will sich keinem Schema beugen und er geht an seine kompositorischen Aufgaben jedes Mal so heran, als wäre die Musik vor ihm noch gar nicht erfunden gewesen.“ Die ganz und gar individuelle Art und Weise, seine Motive der Sprache, der Landschaft, der Alltagskultur abzulauschen und aus ihnen etwas Ureigenes, Neues zu schaffen, ist ohne Vorbilder.  Die Solo-Geige: hier ist sie des Spielmanns Instrument, nicht etwa das „Freund Heins“, aber dennoch umschmeichelt auf ihr, in der Erzählung des Dichters Svatopluk Čech, der Geist des gestorbenen Dorfmusikanten sein zurückgelassenes Kind vom harten irdischen hinüber in ein erleichterndes, „himmlisches Leben“.

In einem Zeitungsgespräch aus seinem Todesjahr 1928 äußert sich Janáček auch über den „Wozzeck“: „Unrecht, schreiendes Unrecht tut man dieser Oper und Alban Berg. Das ist ein unerhört tiefer Dramatiker, voll echter Lebenswahrheit. (...) jede seiner Noten war in Blut getaucht!“ Bei allem Altersunterschied, aller Differenz des biographischen Hintergrunds und des musikästhetischen Ansatzes: welch Ausdruck von Sympathie des 74-jährigen und welch geistige Nähe. Noch das Kaleidoskopische der Janáčekschen Konzeption korrespondiert nicht nur mit dem Fragment-Charakter von Büchners Drama, sondern auch mit Bergs Montage-Technik, indem dieser etwa auch Texte der „alten Frau“  Marie in den Mund legt: den Beginn des Märchens „vom armen Kind“ („Es war einmal ein armes Kind und hatt‘ keinen Vater und keine Mutter“). Vor dem Beginn seiner todtraurigen Himmelsreise läßt Berg Marie abbrechen: „und weil es niemand mehr hatt‘ auf der Welt...“.  Im weiteren, von ihm also nicht mehr vertonten Verlauf der Erzählung heißt es u.a.: „wollt‘s in Himmel gehn, (...) und wie‘s endlich zum Mond kam, war‘s ein Stück faul Holz, (...) und wie‘s zur Sonn kam, war‘s ein verwelkt Sonneblum“. Und am Ende: „und wie‘s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen“. Und so schließt sich ein Kreis; es könnte auch ebendiese Wozzeck-Marie sein, die sich den anderen Himmel, jenen des Mahlerischen „Himmlischen Lebens“ herbei-imaginiert. - Die „Bruchstücke“ wurden 1924, ein Jahr vor der Uraufführung der ganzen Oper, von H.Scherchen uraufgeführt, als eine Art ,Voraufführung‘, die die Aufführbarkeit der Oper beweisen sollte. Berg wählte dafür keine Wozzeck-Szenen sondern die zwei großen Marie-Szenen sowie das Todes-Zwischenspiel Wozzecks und die letzte Szene aus. Mit ihrer Auswahl zielen die „Bruchstücke“ auf Beispielhaftigkeit und Überhöhung. Diesem Ziel dient auch, nicht zuletzt, Bergs spezielle Einbindung volksliedhafter Elemente in seine eigene Sprache.
Berg und Janáček: fast zeitgleiche, höchst unterschiedliche Ausformulierungen einer Synthese von Volkstümlichkeit und expressionistischer Moderne in der Nachfolge Mahlers.

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