Es ist eine alte Geschichte

Über Mozarts „Figaro“

Bonn 1997

Text: Peter Hirsch

Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu...

Auf der Suche nach den Intentionen (was will uns der Dichter - oder Komponist - damit sagen?) scheitert man bei Mozart. Weit mehr noch und anders als da Ponte verteilt Mozart seine Sympathien vorurteilslos auf alle Figuren. Vorurteilslos und wahllos: man verzweifelt bei dem Versuch, Präferenzen ausfindig zu machen, Haltung auszuloten. Es gibt keine.
Es gibt zehn unabhängige, nur aufeinander bezogene Figuren, die alle von Mozarts kompositorischer Hingabe gleichermaßen umfaßt werden, und die aufeinander reagieren; jede von ihnen eine Art Sonnensystem; unter ihnen Anziehungen und Abstoßungen wie zwischen Sternen, Planeten, Monden.
Anwendung der Chaostheorie aufs Theater.
Alles erscheint planlos, zufällig, und doch erzeugt jede Bewegung Gegenbewegung, hängt alles voneinander ab.
Gesucht: das Sandkorn im Getriebe;
tatsächlich durchbricht die Musik selbst immer wieder ihr eigenes Gefüge, schafft Unterbrüche im Ablauf: Raum für die Momente großen Gefühls ebenso wie Pausen der Irritation. Aus kalkulierten Fallhöhen entspringt  das Unkalkulierbare, das Nicht-Erwartete.
Wahrnehmung des Unerhörten im Moment des Innehaltens.
Es kommt auf die Sekunde an.
In diesem Zusammenhang erscheinen die Rezitative zuweilen wie eine aleatorische Partitur: Halb organisiertes, halb offenes Material, das seine konkrete Ausgestaltung und Re-Komposition erst im Moment der Aufführung erfährt.
Im Spannungsfeld zwischen Musik und Geräusch, hermetischer Form und freier Improvisation, Gesang und Sprache reagiert das Theater mit allen Ausdrucksmitteln auf dramatische Situation.
Im Idealfall: Aufhebung des alten Widerspruchs von Konstruktion und Freiheit.
Mozartsche Utopie.
Es ist eine alte, immer neue Geschichte...

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