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Marginalien zum Thema „Sprechgesang“

Text: Peter Hirsch

Musik-Konzepte 112/113
Schönberg und der Sprechgesang

Die alte Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Musik, die in der Oper so ausführlich und überaus fruchtbar unbeantwortet geblieben ist, stellt sich im Falle gesprochener Sprache noch einmal ganz neu. Prima le parole dopo la musica oder umgekehrt? Degradiert Sprache Musik zur Illustration oder reduziert Musik eher die Sprache auf ihren bloßen WortLaut? Bei dem Versuch der Wiener Schule, diese Beziehung neu zu definieren, steckt vielleicht bereits im Ansatz ein Mißverständnis: Anders als bei den Melodramen des 19. Jahrhunderts, die den Text frei gesprochen über - oder unter - die Musik legten, nimmt Schönberg den Interpreten die Last der Freiheit und fixiert, um den Ausdruck festzulegen, die Rhythmen und Tonhöhen des gesprochenen Textes. Nun gibt es aber 1.) einen oft großen Lagenunterschied zwischen den Sprech- und Gesangs-Stimmen, vor allem bei den Frauenstimmen; 2.) führt die Befolgung dieser musikalischen Fixierung des Sprachausdrucks oft zu einer Verschiebung der Schwerpunkte: die Konzentration auf das Musikalisch-Technische absorbiert meist das Nachdenken über den Text, musikalisiert die Sprache bis zur Unkenntlichkeit. Schönberg war sich dieser Gefahr wohl bewußt: um sie zu vermeiden, ist im Vorwort zum Pierrot vom Unterschied zwischen Gesangston und Sprechton, den es genau einzuhalten gilt, die Rede: „der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.“ Dem Mißverständnis folgt ein Widerspruch: Dieses Fallen oder Steigen führt zu genau jener „‘singenden‘ Sprechweise“, vor der im nächsten Satz ausdrücklich gewarnt wird, und die dennoch seither eine neue Konvention eines Wiener-Schule-Ausdrucks begründet hat.
Natürlich leitet sich die ‚Erfindung‘ Sprechgesang aus einer bestimmten, historischen Rezitations-Tradition ab, wie man sie von Kainz oder K.Kraus etwa her kennt. (Hin und wieder kann man diesen farbigen und bebildernden Sprechton bis heute hören.) Dazu mag man ästhetisch stehen, wie man will: Im Moment, wo zur Sprache Musik hinzukommt, verändern sich die Koordinaten. Schon beim ‚alten‘ Melodram, wie etwa „Enoch Arden“ von R.Strauß besteht die Aufgabe und Schwierigkeit für den Rezitator darin, nicht mit der Musik zu konkurrieren. Das ‚Musikalische‘ der Sprache, das neben dem Klang der Worte wesentlich ein Rhythmisches ist, gefährdet oft ihren Gegenstand. Der Rausch, in den uns die Schönheit einer Sprache versetzen kann, benebelt leicht die Sinne. Fürs Gesprochene allgemein gilt, daß kaum ein noch so emotionsgetränktes Färben und Singen der Sprache es mit der Komplexität von Musik wird aufnehmen können, hingegen viel wahrscheinlicher dazu führen wird, daß die Inhalte sich auflösen. Der Sinn der Worte wird nicht mehr verstanden werden können, weil er nicht mehr gehört wird. So wie jede musikalische Aufführung durch sich selbst das Ihr-Zuhören inszenieren muß, so muß Sprache den Verfolg der Gedanken, die Konzentration des Zuhörers darauf erzeugen - bisweilen auch: erzwingen. Sprache soll nicht kolorieren, sondern im Augenblick des Gesprochen-Werdens sich selbst nachvollziehbar machen. (Das gilt auch dann, wenn es um ein Denken gehen mag, das sich etwa um seine eigene Unmöglichkeit dreht; das ein Gefühl des Unvermögens, sich klar und deutlich auszudrücken, beschreibt, da es um Dinge geht, die vielleicht gar nicht formulierbar sind, und das deshalb vielleicht besonders auf fremder Kunst Hilfe ‚angewiesen‘ sein mag. Auch die mögliche Nicht-Nachvollziehbarkeit eines Bildes oder Gedanken hat Sprache ‚nachzuvollziehen‘.) Worte und Sätze wie auf einer Perlenschnur. Oder auch: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“.
(Es versteht sich von selbst, daß hier nicht von solchen Stücken die Rede ist, die die Sprache ganz bewußt der Musik unterordenen, sie gleichsam in ihren Dienst stellen; wie z.B. jene rhythmisch-motorischen Passagen in der „Ode an Napoleon“, die einige überausführliche Metaphern Byrons perpetuum-mobile-artig wie eine Rhythmusmaschine hinwegskandieren.) An dem oben beschriebenen „Nachvollziehen“ wird die unterschiedliche Schubkraft deutlich, mit der Sprache und Musik in der Zeit verlaufen. Die Geschwindigkeit der Wahrnehmung durch Sprache sich äußernder Gedanken ist langsamer als die musikalischer. In einem Brief schreibt Mozart einmal über seine Arbeitsweise: „..sodaß ich‘s hernach mit einem Blick gleichsam wie ein schönes Bild ..im Geist übersehe“. Dies ist (außer einer besonderen Gabe) natürlich die Sicht eines Autors, aber auch für uns  Rezipienten gilt, daß wir viel schneller beim Anhören von Musik ‚ins Bild gesetzt‘ werden als beim Anhören von Literatur.
A.Berg versucht im Wozzeck durch Ausdifferenzierung verschiedener Grade von Künstlichkeit in der Sprache der aufgestellten Falle zu entgehen. Zum einen gibt es Stellen „mit etwas Gesangstimme“, wo die Stimme „ins Singen hineinkommen“ soll. Zum anderen schreibt er: „In den Fällen, wo die Sprechstimme nicht durch Tonhöhe und Rhythmus dargestellt ist, handelt es sich um ein gewöhnliches Sprechen, also um eine, zur darunterliegenden Musik ganz natürlich-realistisch geführte Konversation.“ Natürlich-realistisch, also ohne das Korsett von Rhythmus und Tonhöhe. Wie er sich das wohl vorgestellt hat? Etwa so, wie immer noch viele Zauberflöten- oder Freischütz-Dialoge klingen? Sarastro-Bässe, die man noch in der Kantine heraushört? Allzu oft ist die Stimme eines Sängers oder Schauspielers die Maske der Profession, hinter der man sich verbirgt und die den persönlichen Ausdruck verdeckt. Bergs klangliche Feinheiten bannen nicht die Gefahr des ‚hohlen Tönens‘, rühren nicht ans Wesentliche: nämlich die Notwendigkeit einer Haltung des Sprechers seinem Text gegenüber; einer Haltung, die sich letztlich nicht über musikalisch-technische Parameter definieren kann sondern nur über den Inhalt, und also - hoffentlich - immer neu definiert.
Natürlich soll das nicht heißen, diese Bemühung um Inhalte wäre nicht auch eine Frage des Klanges (oder des Ausdrucks). Schließlich ist gesprochene Sprache weder ausdrucks- noch tonlos. (Ihr Tonhöhenanteil ist etwa dem einer großen Holztrommel vergleichbar, die zwischen den Melodie- und den reinen Geräusch-Instrumenten liegt.) Der Tonhöhenunterschied einer Oktave z.B. ist beim reinen Sprechen genauso gut hörbar und nachprüfbar wie beim Singen; er erscheint jedoch ganz anders: nämlich als viel geringerer Ausschlag. Selbst bei einem als monoton empfundenen Sprechen fern ab jeder singenden Sprechweise wird dieser Umfang ohne weiteres erreicht. Beispiel Wozzeck: Marie liest in der Bibel: „Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden worden.“ Die Tonhöhen-Relationen sind durchaus einzuhalten (und einhaltbar), nicht aber das Register. Wie sollte Berg wissen, um wieviele Oktaven, eine oder gar zwei, die Sprechweise einer zukünftigen Marie unter ihrer Singstimme liegen würde; also notiert er im Violinschlüssel, im Register des Gesangs. Aber: gesprochen ist gesprochen! Es geht um die Haltung einer Frau, die, lesend, einen ihr fremden Text vor sich hin-buchstabiert. Übers langsame Verstehen der Worte beim Entziffern der Buchstaben. Und zufällig spielen - wie auf entfernten Monden und Planeten um sie herum - vereinzelte Streicherfragmente dazu. Über diesen fragilen, besonderen Klang findet sich vielleicht ein Ansatz für den besonderen Ausdruck, um den es geht.
Bei einem anderen Versuch, der Sache nahe zu kommen, in den
Spielanweisungen zur „Glücklichen Hand“, schreibt Schönberg: „In den Partien der sechs Frauen und sechs Männer sind die durch Tonhöhe und Rhythmus dargestellten Sprechmelodien zum Ausdruck zu bringen, indem Rhythmen und Dynamik genau, die Tonhöhen aber andeutungsweise gebracht werden.“ Was er unter „andeutungsweise“ versteht, wird zunächst nicht klar. Offenkundig ist jedoch gleich das Besondere hier: chorisches Sprechen. Es handelt sich um zwei Chöre, zu Beginn und am Ende, die in der Art eines griechischen Chors die Handlung kommentieren. Das erste ist ein bis zu 6-stimmiger ‚Flüsterchor‘, in den vereinzelte gesungene und gesprochene Partikel eingestreut sind. Zwischen „klangvoll..“ und „tonlos geflüstert“ besteht wohl nur ein Intensitätsunterschied, denn tatsächlich „tonlos“ geflüstert gibt es nicht. Der Tonhöhenanteil des Flüsterns ist sogar deutlich größer als der der Sprache. Um so klarer müssen die Unterschiede zum Sprechen und Singen sein. Übergangslose Brüche! Interessanterweise ist der Registerwechsel für die tiefen Männerstimmen natürlich umgekehrt wie sonst: ihr Flüstern wird viel höher sein als die gesungenen Tiefen. Läßt man sich auf diese Brüche ein und realisiert strikt die unterschiedlichen Klangebenen - samt der sich daraus ergebenden Registerwechsel -, bricht der auf den ersten Blick kompakt wirkende Satz auf, wird licht und transparent. Zudem verliert die strenge Rhythmik, die im Chorischen ja unerläßlich ist, jede Gefahr eines ‚Martialischen‘. Der Klang dieser zwölf Gesichter, von denen „man fast nur die Augen deutlich sieht“, ist merkwürdig entstofflicht. Der zweite Chor ist schon wieder problematischer: „anklagend, streng gesprochen“ heißt es da. Wenn Komponisten nur wüßten, was sie anrichten, wenn sie so etwas wie „anklagend“ zu Sprache schreiben. Wie soll man da je den sich anbahnenden ‚Operntonfall‘ wieder loswerden? Aber: es gibt auch Hilfen; Schönberg schreibt an dieser Stelle in einer Fußnote: „Durch die 3stimmigen Akkorde soll angedeutet werden, daß die betreffenden Phrasen von den Sängern in ihren Stimmlagen entsprechenden Tonhöhen gesprochen werden sollen.“ Da steht es endlich klipp und klar: in den ihren Stimmlagen entsprechenden Tonhöhen also Registern. Es werden also je nach individueller Sprechstimmen-Charakteristik der einzelnen Sänger auch alle möglichen Umkehrungen der Akkorde auftreten können, sodaß z.B. die Baß-Stimme in die Mitte wandert, oder die Oberstimme in den Baß usw. Außerdem tritt bei diesen 3stimmigen gesprochenen Akkorden die Dominanz der Tonhöhen, also die Durchhörbarkeit der einzelnen Akkorde zurück hinter eine Klangcharakteristik, die sich einerseits aus der speziellen Mixtur der einzelnen, individuellen Sprachgestiken zusammensetzt, andererseits aus einer gemeinsamen, zu inszenierenden Haltung, und die sich klanglich vom kurzen, abschließenden, rein gesungenen Teil wieder deutlichst abheben muß.

Nachwort zu „Überlebender“.
Wie schaffe ich es, dem notierten Sprach-Rhythmus annähernd gerecht zu werden, ohne an ihn zu glauben? Was bewirkt er mehr, als die Organisation des Zusammentreffens von Text und Klängen? Wie klingt die Sprache des Sich-Erinnerns? Es liegt in der Natur dieses Stückes, daß der Notentext darauf keine Antwort geben kann. Sprache ist hier wie das Dechiffrieren verwitterter und überwachsener Grabinschriften. Erinnerung als Palimpsest. Die Chiffre ist der Tunnel, in dem jeder Sprecher einen ihm adäquaten Tonfall finden muß. Was entsteht, ist eine Art Dreidimensionalität des Hörens, in der die Wahrnehmung von Musik und das Nach-Denken über Sprache in eine neue, fremde Beziehung treten. In diesem Raum, der sowohl ein abstrakter wie emotional bestimmter ist, sind Sprache und Musik gleich weit davon entfernt, einander zu illustrieren oder zu usurpieren.  

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