"Was mir das Felsgebirg erzählt"

Schubert/Webern: Deutsche Tänze
Volksmusik und Dreigesang aus Unterwössen
Mahler/E.Stein:  Sinfonie Nr.4

Triennale Köln 2010

Text: Peter Hirsch

Schubert und Mahler und die Alpen

Seit Jahrhunderten gibt es die vielfältigsten, regional unterschiedlichsten, produktiven Beziehungen zwischen Volkskunst und sogenannter „Kunstmusik“. Gedanke dieses Programms ist es, die historisch gewachsene Musik des Alpenraums jener „klassischen“ Musik, die die vielleicht größte Affinität zu dieser Kultur hat, Schubert und Mahler, gegenüberzustellen; nicht durch Angleichung oder gar Verfremdung, sondern gerade in ihrer klanglichen Eigenständigkeit.

Wie niemand vor ihm hat Schubert dieses archaische, Jahrhunderte alte, in Melodie und Harmonik vom Alphorn sich herleitende Idiom aufgesogen und sich zu eigen gemacht. Das Kreisende, das harmonisch scheinbar nicht vom Fleck-Kommen, das suchende, ein virtuelles Zentrum immer wieder Umrundende hat er mit seiner Musik zum Topos des Wanderers erhöht. Aus gleicher Anziehung heraus versteht sich Gustav Mahlers Neigung, Ländler und andere Elemente der Folklore collageartig, als wären es Zitate, in seine Musik einzufügen und sie unerwarteten harmonischen Brüchen und kontrapunktischen Verwicklungen auszusetzen. Sein Verfahren gleicht einem wehmütigen Blick zurück durch leicht blinde oder gebrochene Spiegel.
Aber gerade die Gebrochenheit von Mahlers Umgang mit dieser Musik hat ihre Vorbilder im freilich ungeglätteten ‚Original‘. Diese alten Lieder, Ländler und Jodler wurden über die Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben und haben sich dementsprechend ständig gewandelt. (Erst Ende des 19., Anfang des 20.Jahrhunderst wurden sie eingehender gesammelt, notiert und so vor dem Vergessen bewahrt, u.a. durch Pommer, Kiem, K.Huber.) In ihren charakteristischen Eigenarten, wie dem Überschlag, den metrischen Vertracktheiten etwa des „Zwiefachen“, Quintparallelen und Sekundreibungen in Hülle und Fülle sowie Rubati, gerade beim langsamen Dreigesang, die mit unserem Notationssystem gar nicht beschreibbar sind, sind sie himmelweit von aller simplifizierenden ‚Tümelei‘ entfernt. Die Texte, nicht nur zu religiösen Themen, auch solchen des Alltags, transzendieren oftmals ihren Gegenstand in einer Weise, daß man gut versteht, wieso gerade Mahler sich davon angezogen fühlte. Es haftet dieser Musik ein Element des Undomestizierten an, das sich jeder Gleichrichtung verweigert. (Wie in anderen Bereichen der Volkskultur auch, von Tracht über Architektur bis zu Hinterglasmalerei, geht Usurpation für fremde Zwecke ja immer auf Kosten eben dieses unvorhersehbaren, unverzichtbaren Rests, bedeutet mißbräuchliche Aneignung stets Einebnung und Verflachung.) Nicht zufällig wendet sich etwa Bartok in seinen Untersuchungen und Aufsätzen zum Thema, Anfang der 40er Jahre, vehement gegen alle u.a. nationalistischen Vorurteile und Vereinnahmungen. Daß die Ländler Schuberts und Mahlers IV.Sinfonie hier in historischen Bearbeitungen des Schönbergkreises erklingen, unterstreicht dies und verdeutlicht, daß diese Traditionslinien bis in die Wiener Schule hineinreichen.

Zufälliges Fundstück dieser Suche nach dem gemeinsamen inneren Ton: Der Text des Agnus Dei aus der „Bayrischen Bauernmesse“ von Annette Thoma beginnt mit: „Wir genießen die himmlische Freude, was tut uns das Irdisch zu leide.“ Die Ähnlichkeit mit dem Beginn des „Himmlischen Lebens“ aus „Des Knaben Wunderhorn“, das Mahlers Vierte beschließt, ist unübersehbar. Das Ende des Satzes, welches die „himmlische Musik“ beschreibt, ist reine Musik „im Volkston“. „Cäcilia mit ihren Verwandten sind treffliche Hofmusikanten“ und, wie man hört: Volksmusikanten. Offensichtlich ist das im Himmel dasselbe.

zurück