(Welt-)Theater vorm inneren Ohr

B.A.Zimmermann: Werke für Kammerorchester                              WERGO6671 2

Text: Peter Hirsch

„Die Entscheidung darüber, wo die Grenzen der Musik liegen, kann schließlich und schlüssig nur durch die Unternehmungen der Komponisten ermittelt werden, die ... immer wieder bestrebt sind, das Unfaßbare faßbar zu machen, das Chaotische zu ordnen, das Grenzenlose zu begrenzen: ein Anliegen des menschlichen Geistes seit jeher.“                             (Über die Beharrlichkeit der Mißverständnisse; 1956)


„Wir sollten den Mut haben zuzugeben, daß angesichts der musikalischen Wirklichkeit Stil ein Anachronismus ist.“   (Vom Handwerk des Komponisten; 1968)

„...Instrumentalkonzert...Ballettmusik. Die Verbindung dieser beiden, scheinbar un-verbindlichen Gattungen will jedoch auf ein Drittes hinaus, in dem beides gleichwohl enthalten sein soll: die absolute musikalische Form.“ (1966)


Dieses „Dritte“, von dem Zimmermann hier im Zusammenhang mit seinem Violoncellokonzert en forme de pas de trois spricht, war für ihn von jeher so etwas wie: Musik für ein imaginäres Theater; ein Theater, auf dessen virtueller Bühne Wirklichkeit verhandelt wird, oder mit seinen Worten es darum geht, das Chaotische zu ordnen, das Unfaßbare faßbar zu machen. Das widerspricht der Aussage von der „absoluten musikalischen Form“ nur scheinbar: Stets hat sein musikalisches Denken um jene „musikalische Wirklichkeit“ gekreist, der mit stilistischen oder gattungstechnischen Einschränkungen nicht beizukommen war. Wie kaum ein Komponist der Nachkriegszeit hat er sich bedingungungslos dieser Wirklichkeit, wie er sie verstand: heterogen, chaotisch, auch apokalyptisch, gestellt und es vermocht, sie in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen und kompositorisch zu bändigen. Die Zuspitzung „Stil - ein Anachronismus“ verweist auf die Unzulänglichkeit herkömmlicher Formtypen, will auf Pluralismus als Kompositionsmethode heraus, nicht auf stilistische Willkür; die „absolute musikalische Form“ postuliert sich als neues, umfassendes, die alten Formgrenzen aufhebendes „Drittes“. Das gilt nicht nur für die Werke ‚angewandter Musik‘ sondern ebenso für die hochserielle Kantate Omnia tempus habent. Die in der seriellen Praxis zumeist abstrakte Zuordnung der einzelnen Parameter erhebt Zimmermann zum Instrument, um aus musikalischen Konfigurationen dramatische Gestalten eines ‚Theaters im Hinterkopf‘ zu machen. Die scheinbare Hermetik des seriellen Verfahrens - fast jede gespielte oder gesungene Note hat eine andere Dynamik oder Spielweise - wird gerade durch seine umfassende Anwendung durchbrochen. Beispiel Klangfarbe: von „gesprochen“, „secco“, „halbgesprochen“, „espressivo“ bis zu jenem „tonus rectus“ der katholischen Lithurgie reicht die Reihe der Anweisungen für die Stimme. Aber wie gesprochen ist „gesprochen“? Oder der ominöse „tonus rectus“: wie genau singt man den? Jede noch so punktuelle Anweisung bezieht sich ganz traditionell immer auch auf den Text; erst die Querverbindung zwischen Klangfarben, auch denen der Instrumente, und der Sprache erschließt den Ausdruck einer musikalischen Gestalt und verweist so auf eine Form hinter der Form. (Vergl. den insistierenden, fast bedrohlichen „tonus rectus“ bei: „et mundum tradidit disputationi eorum“.) Die Kantate als imaginäres Drama, Instrumentalstück mit Gesang und philosophische Abhandlung über die Zeit in einem.

Die „absolute musikalische Form“ scheint auch durch das hindurch, was Zimmermann über die Kontraste, Musik zu einem imaginären Ballett, schrieb, und was nicht weniger für dessen Urfassung und Rohform, Das Gelb und das Grün, Musik zu einem realen Puppenspiel, gilt: „Das Werk strebt Einheit aus absoluter Musik, absolutem Tanz und absoluter Farbe an, wobei die jeweiligen künstlerischen Medien in ihrer Eigenständigkeit erhalten bleiben sollen und zwar dergestalt, daß ‚Interpretation‘ des einen durch das andere ausgeschlossen sein sollte: Kontrapunkte! Nicht Illustration oder gar Synchronisation.“ Die Kontrapunkte reichen von Walzerparodie über Burleske bis hin zu 12-tönigen, hoch ausdifferenzierten Klang-Phantasmagorien. Der Dadaismus der hier angepeilten (musikalischen) Wirklichkeit ist offensichtlich nicht nur der eines absurden Puppenspiels zwischen Farben und Kühen.

Noch osmotischer gelingt die Durchdringung verschiedener Ebenen, nun von Avantgarde und Jazz, in Metamorphose. Zeit seines Lebens hat Zimmermann sich intensiv mit dem Jazz beschäftigt als einer Kunstform, die für ihn wesentlich mit Rausch und der Aufhebung von Zeit zu tun hatte. In dieser ‚Filmmusik‘, die zugleich ein groß angelegtes, fabelhaftes Ensemblestück ist, steht der Jazz gleichberechtigt neben den avanciertesten, seriellen Kompositions- verfahren der 50er Jahre. Ihre Verbindung gelingt ebenso nahtlos wie die zwischen den Erfordernissen eines Films und denen des „absoluten“ musikalischen Kunstwerks. Noch in einigen offensichtlich auf die erforderliche Länge einer Filmsequenz hingestreckten Passagen gewährleistet Zimmermann die Eigendramaturgie der Musik, indem er gleichsam hineinhorcht ins Material, das, für fremde Ziele erfunden, die eigenen, ihm eingeschriebenen Gesetze verfolgt; ein Material, das in allem, worauf es blickt, Extase und Versenkung, Rausch und Erkenntnis sucht.

Schließlich Un petit rien, ein Kostümfest! Kondensierte Klangbilder scheinbar aus alter Zeit, aber auch die ist Kostüm, Behauptung, eigene Erfindung. Zeiten und Stile, eigene und fremde, geraten saltospringend durcheinander und der Komponist in der Maske des Bearbeiters seiner selbst augenzwinkernd mittendrin. Plötzlich jedoch, an zweiter und vorletzter Stelle, 2 kurze Stücke ureigenster Zimmermann: Metamorphose lunaire I und II. Das erste: ein kleines, leuchtendes Beispiel für Zimmermanns „Kugelgestalt“, hier: seines eigenen Lebens. Wie in aufeinandergeschichteten Folien collagiert er Eigenzitate der 50er Jahre vertikal übereinander; kurze Motivschnipsel, die in einer Endlosschleife immer wieder aneinander gehängt werden. Dazu der Bluesrhythmus der Spätwerks, hier jedoch verlangsamt. Stille und Umkehr in Zeitlupe. Metamorphose von Bluesrhythmus zu Marschschritten, die nicht von der Stelle kommen. Ein großartiges, kleines Stück Musik ohne Anfang und Ende. Neun Takte Trance, in denen die Zeit stillsteht.

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